Die Forderungen nach Repräsentation und sozialer Gleichstellung als zwei Pole einer neuen postkolonialen Bewegung Postkolonialer Aktivismus und die Erinnerung an den deutschen Kolonialismus

Politik

Im Frühlahr 2009 wurde in Berlin ein Teil des Spreeufers umbenannt. Das Kreuzberger Gröbenufer heisst jetzt May-Ayim-Ufer.

Der brandenburgische Offizier Otto Friedrich von der Groeben gründete im Auftrag des Kurfürsten Friedrich Wilhelm I. an der Küste Westafrikas in Ghana 1683 die Handelskolonie Gross Friedrichsburg. Von diesem Fort aus wurden die ghanaischen Sklaven verschifft.
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Der brandenburgische Offizier Otto Friedrich von der Groeben gründete im Auftrag des Kurfürsten Friedrich Wilhelm I. an der Küste Westafrikas in Ghana 1683 die Handelskolonie Gross Friedrichsburg. Von diesem Fort aus wurden die ghanaischen Sklaven verschifft. Foto: Obruni (CC BY 3.0 unported - cropped)Obruni (CC BY 3.0)

18. Mai 2016
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Als die Strasse 1895 den Namen des brandenburgischen Offiziers Otto Friedrich von der Groeben erhielt, war das Deutsche Kaiserreich seit gut einem Jahrzehnt Kolonialreich und unweit der Strasse sollte bald die Erste Deutsche Kolonialausstellung eröffnet werden. Für das Reich war das Anlass, an koloniale Traditionen zu erinnern. Mit dem Strassennamen wurde von der Groeben als Begründer der Handelskolonie Grossfriedrichsburg geehrt, die Brandenburg-Preussen an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert an der Küste des heutigen Ghana unterhielt.

Damit, so machte der Kaiser in der Rede zum Festakt deutlich, konnte von der Groeben als früher deutscher Kolonialpionier gelten. Dagegen erinnerte der Bezirk Kreuzberg mit der Umbenennung an die 1996 verstorbene schwarze deutsche Anti-Rassismus-Aktivistin und Dichterin May Ayim. Die Umbenennung ist gewissermassen ein postkolonialer Akt, denn mit May Ayim wird eine Person geehrt, deren politische, dichterische und wissenschaftliche Arbeit darauf zielte, die Kontinuitäten zwischen deutschem Kolonialismus und aktuellem Rassismus aufzuzeigen und die damit ein zentrales Anliegen von postkolonialer Kritik umsetzte: das Koloniale nach dem Kolonialen sichtbar zu machen.

Die Umbenennung steht nicht allein. Im Gegenteil ist sie eingebunden in die langjährigen Bemühungen einer Szene, die keineswegs auf Berlin beschränkt ist, sondern bundesweit agiert. So ist die Umwidmung zwar unmittelbar Ergebnis eines drei Jahre zuvor in die Kreuzberger Bezirksverordnetenversammlung eingebrachten Antrages der Grünen, geht aber auf den länger währenden Kampf gegen kolonialistische und rassistische Strassennamen in Berlin zurück. Beispielsweise protestierte ein Bündnis aus AfrikanerInnen, schwarzen und weissen Deutschen, darunter kritische WissenschaftlerInnen und Antirassismus-AktivistInnen gegen die »Mohrenstrasse« in Mitte – wenn auch ohne Erfolg. In über einem Dutzend anderer Städte bringen mal Initiativen, mal StadtpolitikerInnen ähnliche Forderungen vor – und haben teilweise Erfolg. In München etwa findet sich seit 2006 eine Hererostrasse.

Bis dahin hiess sie Von-Trotha-Strasse und erinnerte an jenen General, der den Befehl zur Vernichtung der Herero und Nama im heutigen Namibia gegeben hatte. Schliesslich zählten zu den mehreren hundert UnterstützerInnen, die sich zum Festakt am May-Ayim-Ufer versammelten, viele, die zwar nicht in Forderungen nach Strassenumbenennungen, wohl aber durch Ausstellungen, Vortragsreihen, Kunstaktionen, Stadtspaziergängen, Museumsrundgängen kritisch auf die Nachwirkungen des Kolonialismus auf die deutsche Gesellschaft hinweisen.

Zuletzt hatten sie sich – insgesamt 75 Organisationen und über 200 Einzelpersonen – zur Kampagne 125 Jahre Berliner Afrika-Konferenz zusammengeschlossen, die in einem über fünf Monate laufenden Programm auf historische Aspekte, vor allem aber auf das Fortwirken des deutschen kolonialen Projekts hinwies. Anlass dafür war der 125. Jahrestag jener Konferenz, die – ebenfalls fünf Monate lang – in Berlin Vertreter der Kolonialmächte versammelte, damit sie sich auf Regeln zur Anerkennung ihrer Ansprüche in Afrika einigten. Mit dem Festakt zur Benennung des May-Ayim-Ufers feierte die Kampagne auch ihren Abschluss.

Damit kam an diesem Tag gewissermassen der Berliner Teil der bundesweit agierenden Szene zusammen: Mitglieder entwicklungspolitischer NGOs, der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD), Mitglieder des Vereins Berlin postkolonial, WissenschaftlerInnen aus der Rassismus- und Critical-Whiteness-Forschung und Mitglieder des Afrika-Rats, des Dachverbands lokaler afrikanischer Vereine und Initiativen. Hier versammelte sich, was die Zeitschrift iz3w einmal eine »neue erinnerungspolitische soziale Bewegung« nannte.

Die Jahre 2004/2005 lieferten einen wichtigen Impuls für die Formierung dieser »Bewegung«: Zum hundertsten Mal jährte sich 2004 der Beginn des Krieges der Deutschen gegen die Herero und Nama in der früheren Kolonie Deutsch-Südwest-Afrika. Die Berliner Afrika-Konferenz lag 120 Jahre zurück. 2005 war der hundertste Jahrestag des Maji-Maji-Krieges, in dem sich AfrikanerInnen im heutigen Tansania gegen die deutsche Kolonialherrschaft zur Wehr setzten. Während die Regierungen Namibias und Tansanias in gross angelegten Veranstaltungen dieser Ereignisse gedachten, sah die Bundesregierung keine Veranlassung, Gedenkveranstaltungen auszurichten – nicht zum Krieg in Namibia, in dem deutsche Truppen 80.000 Menschen umbrachten, nicht zum Krieg in Tansania, dem in Folge der deutschen Strategie der verbrannten Erde Hunderttausende zum Opfer fielen, nicht zur Afrika-Konferenz, die eine Initiative des deutschen Kaiserreichs war.

Die offizielle Erinnerung an deutschen Kolonialismus liess die Bundesregierung kurzerhand ins Ausland verlagern: Zur Schuld der Deutschen – im »historisch-politischen« und »moralisch-ethischen«, nicht aber im rechtlichen Sinne – bekannte sich nicht der Kanzler, sondern die damalige Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul auf der zentralen Gedenkveranstaltung, und zwar in Namibia. Einige Jahre zuvor hatten die Afrika-Historiker Andreas Eckert und Albert Wirz festgestellt, dass PolitikerInnen inzwischen zwar bereit seien, »in einem gewissen Mass die fatale Rolle des Antisemitismus in der deutschen Geschichte zu konzedieren«, deutscher Kolonialismus, seine Kriege und seine Folgen aus ihrer Perspektive aber Dinge seien, »welche die ›Anderen‹ zu ›bewältigen‹ ha[b]en«.[1] Die »Gedenkjahre« 2004/2005 änderten daran nichts.

An dieser erinnerungspolitischen Leerstelle setzten bereits in den 1980ern vereinzelt und seit 2004 nun verstärkt Initiativen mit einem explizit kolonialkritischen Impetus an – in verschiedenen deutschen Städten. In Berlin lud ein Bündnis aus AfrikanerInnen und Deutschen zur viertägigen Anticolonial Africa Conference (AAC) ein, deren Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen Kontinuitäten zwischen kolonialen und aktuellen Politiken betonten – etwa bezüglich der Migrationspolitik (Stichwort »Festung Europa« und Residenzpflicht) und der Förderung von Rohstoffen in Afrika. In Hamburg bot ein breites Bündnis unter dem Titel Hamburg postkolonial kolonialkritische Stadtführungen an, lud dazu ein, koloniale Bildpostkarten gegen den Strich zu lesen und liess über den Umgang mit kolonialen Denkmälern diskutieren.

Diese Aktivitäten setzen sich bis heute fort: In den letzten Jahren entstanden in vielen Städten Internet-Plattformen und Gruppen, die sich eine Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte zum Ziel setzen: Zwei Jahre nach dem Zusammenschluss des Veranstaltungsnetzwerks Hamburg postkolonial ging freiburg-postkolonial.de online. Das an das Informationszentrum Dritte Welt (iz3w) angebundene Projekt dokumentiert nicht nur die Ergebnisse eigener und anderer Forschungen zu den Verquickungen von Freiburger Stadtgeschichte und Kolonialismus, sondern hat sich zugleich mit seiner beeindruckenden Sammlung an Quellen und kritischen Texten zum deutschen Kolonialismus als prominenteste Online-Plattform innerhalb der Szene etabliert.

Die kurze Zeit später gegründeten [muc] München postkolonial und Berlin postkolonial organisieren vor allem Stadtrundgänge, Bildungsprojekte und andere Veranstaltungen zum Thema, setzen sich aktuell aber auch gemeinsam für die Rückführung von Museumsobjekten ein, die durch koloniale Gewalt erbeutet wurden. Köln postkolonial holte 2008 mit einer Sonderausstellung die koloniale Lokalgeschichte ins Stadtmuseum.

Auch in Bielefeld, Frankfurt a. M., Leipzig und anderen Orten entstanden ähnliche Initiativen. Diesen Akteuren ist nicht nur der historische Bezugspunkt gemein. Viele von ihnen machen auch einen gemeinsamen theoretischen Rahmen stark. Einige bilden ihn gar prominent in ihrem Gruppennamen ab. Sie alle greifen auf ähnliche Aktionsformen zurück, schliessen sich zeitweise in Bündnissen zusammen und tauschen sich – wenn auch in unregelmässigen Abständen – in Vernetzungstreffen aus. Längst hat sich eine postkoloniale Bewegung formiert.

Nachwirkungen des Kolonialismus

Den Aktionen der postkolonialen AktivistInnen liegt die Annahme zugrunde, dass der deutsche Kolonialismus mehr war als ein kurzweiliges Abenteuer, dass er Alltag, Bilder, Diskurse, Strukturen und Politiken in Deutschland prägte und bis heute nachhaltig prägt. Gleichzeitig setzen kolonialkritische Interventionen bei der Feststellung an, dass – wie Freiburg postkolonial es ausdrückt – in der bundesdeutschen Geschichtspolitik und Öffentlichkeit »[e]twas, das sehr präsent war, heute […] systematisch nicht mehr gesehen oder gar aktiv ausgeblendet«,[2] wenn nicht gar positiv revisionistisch verklärt wird.

Diese Ausblendung kann man etwa in der Ausstellung des aus Bundesmitteln finanzierten Deutschen Historischen Museums (DHM) in Berlin, von vielen versehentlich und treffend als »Deutsches Nationalmuseum« betitelt, erfahren. Denn in der Dauerausstellung des Museums kann man sich in dem Abschnitt, der das Kaiserreich behandelt, gut eine Stunde aufhalten – und dabei die Kolonialgeschichte einfach übersehen.

Sie fehlt, wenn die Geschichte der Reichsgründung erzählt wird; sie fehlt, wenn es um metropolitane Populärkultur geht, obwohl sogenannte Völkerschauen ein zentrales Unterhaltungsgenre und Kassenschlager der Zeit waren; sie fehlt, wenn es um den Reichstag geht, obwohl in der abgebildeten Parlamentssitzung ausgerechnet der Koloniallobbyist Adolph Woermann hervorsticht. Im DHM ist Kolonialgeschichte stattdessen in einen Schaukasten verbannt und steht unter einer Treppe, in der dunkelsten Ecke des Ausstellungsteils. Darin finden sich koloniale Landschaftsmalerei, eine Uniform, ein Schiffsmodell, ein Album mit Fotografien vom Auspeitschen und Hängen von Afrikanern. Es sind koloniale Erinnerungsstücke, die hier versammelt wurden, mehr Rumpelkammer eines Kolonialbeamten denn Museumsvitrine.

Das Einzige, was die Exponate zusammenhält, ist die Perspektive, die sie implizieren – eine kolonialdeutsche Sicht, die auch die spärlichen Erläuterungen des Museums nicht brechen: Was der Fotograf in seinem Fototagebuch zum Feldzug gegen die Herero und Nama als »Strafexpedition« untertitelte, taucht auch im Erklärungstext als »Strafexpedition« wieder auf. Kriege nicht als Kriege zu deklarieren, sondern als Vergeltung eines vermeintlichen Vergehens, war eine typisch koloniale Praxis. Hier wird sie fortgeführt. Das Haus, das sich die »Verständigung über die gemeinsame Geschichte von Deutschen und Europäern« zur Aufgabe gemacht hat, verständigt sich darüber, dass deutscher Kolonialismus isoliert von allen anderen Entwicklungen dieser »gemeinsamen Geschichte« stattfand, als Fussnote, und dass die Verständigung über koloniale Geschichte nicht zu einer Brechung des privilegierten und rassistischen weissen Blicks führen darf.[3]

Während die deutsche Regierung und ihre Kulturinstitutionen in Bezug auf die koloniale Vergangenheit amnesieren, scheinen die Medien und insbesondere das Fernsehen das Thema für sich zu entdecken – auf ihre Art und Weise. So nennt Guido Knopp seinen kürzlich im ZDF ausgestrahlten TV-Dreiteiler nicht etwa »Deutscher Kolonialismus« oder aber wenigstens »Das deutsche Kolonialreich«, sondern »Das Weltreich der Deutschen«.

Im Intro kündigt eine sonore Stimme »Eine Geschichte von Träumen, Sehnsüchten und der rauen Wirklichkeit« an und die üppige Streichermusik ein dramatisch-romantisches Epos. Wessen Perspektive im Mittelpunkt steht, wenn die Geschichte der Kolonialisierung Namibias, Ostafrikas, Tsingtaos, Samoas und Papua-Neuguineas erzählt wird, ist von vornherein klar.

Statt eine Geschichte der Etablierung von Herrschaft zu erzählen, macht Knopp aus den einstigen Projektionsflächen neue: Die Deutschen seien »brutal aber fortschrittlich«, »grausam aber offenherzig« gewesen, sagen »Experten«; sie hätten TansanierInnen mit der Vereinheitlichung des Kiswahili eine einende Sprache und »gemeinsame Volksidentität« gegeben; als im Teil zu Ostafrika der Begriff »Widerstand« dann doch einmal fällt, bezieht er sich auf Paul von Lettow-Vorbeck, jenen General, der während des Ersten Weltkriegs die deutschen Truppen in Ostafrika kommandierte und dabei »bis zum Schluss« gegen die britische Armee kämpfte. Die Dokumentation ist keine Geschichte des deutschen Kolonialismus. Sie ist eine koloniale Geschichte der Deutschen, ein Doku-Epos, das eine Selbstvergewisserung der Deutschen als fortschrittliche und moderne Heilsbringer erlaubt – durch eine Abgrenzung vom Anderen als rückständig und hilfebedürftig.

Das Bild Deutschlands als Modernisierer wirkt bis heute nach. Wieder scheint es vor allem dann Konjunkturen zu erfahren, wenn deutsche Interessen auf dem Spiel stehen. So schreiben aktuell deutsche Presse und WissenschaftlerInnen gegen die »merkantilistische und geopolitische Strategie Chinas«[4] an und präsentieren sich bedrängt fühlende deutsche Firmen als Partner für eine »nachhaltige Kooperation mit Afrika«,[5] als Förderer afrikanischer Entwicklung und damit als altruistisches Gegenstück zu »China«. Eine andere Spielart dieses Motivs bildet das Argument, die BRD sei durch ihre spezifische, nämlich vergleichsweise kurze koloniale Erfahrung, in besonderem Masse zur »unbelasteten« Rolle der Unterstützerin armer Länder geeignet. So formulierte es unter anderem Uschi Eid, unter Rot-Grün Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.

Deutsche Kriegspolitik bildet einen weiteren Bereich, in dem koloniale Diskurse nicht nur überleben, sondern auch Grundlage für reale Politiken und Handlungsanweisungen liefern. Wenn sich aktuell unter Beschuss stehende BefürworterInnen des Krieges in Afghanistan auf eine Rhetorik der Befriedung und Befreiung zurückziehen, dann ist das auch möglich, weil koloniale Schutztruppen diese Rhetorik generierten und populär machten; und weil in dem dazu gehörigen Bild »verfeindete afrikanische Stämme« durch in »traditionellen und mafiösen Strukturen« gefangene AfghanInnen ersetzt werden können.

So unsichtbar und unbekannt die meisten Aspekte deutscher Kolonialgeschichte in der Öffentlichkeit sind – dass Deutschland kürzer dabei war als andere, kolonialdeutsche Eisenbahnlinien aber trotzdem bis heute Bestand haben, sind Details, die sich eines erstaunlich hohen Bekanntheitsgrades erfreuen. Hierin manifestiert sich deutlich die nachhaltig konstitutive Bedeutung von Kolonialismus für die bundesdeutsche Gesellschaft und Politik. Dass sich »die ›deutsche Moderne‹ wesentlich auch über die ›koloniale Nichtmoderne‹«[6] konstruierte, wie die Historikerin Birthe Kundrus beschreibt, wirkt bis heute nach.

Solche Verschränkungen zwischen Metropole (kolonialem »Mutterland«) und Kolonien auszublenden ist aus der Perspektive der postkolonialen Kritik keine blosse Unterlassung, sondern selbst Effekt der kolonialen und letztendlich rassistischen Zweiteilung der Welt in »the West and the Rest« (Stuart Hall), in zwei als grundsätzlich andersartig und entgegengesetzt konstruierte Sphären. Diese Teilung zu überwinden, ist erklärtes Ziel postkolonialer Kritik. Sie will Kolonien und Metropolen als Teil ein und desselben »analytischen Feldes« zusammendenken. Erst so wird sichtbar, dass nicht nur die Metropole Einfluss auf die Kolonien ausübte, sondern auch umgekehrt die Kolonien die Metropole prägten. Aus einer solchen Perspektive erscheinen etwa die Einrichtung von Arbeitshäusern im Kaiserreich und die Disziplinierung von ArbeiterInnen in den Kolonien als ein und derselbe Prozess – und nicht als Teil der »deutschen Geschichte« einerseits und als Teil der »kolonialen Geschichte« andererseits.

Doch Metropole und Kolonie werden auch von postkolonialen AktivistInnen zusammengebracht. Beispielsweise räumlich, indem sie in Stadtrundgängen auf Zeugnisse, Schauplätze und damit auf die physische Präsenz des deutschen Kolonialismus hinweisen. Oder auch zeitlich, indem sie in Veranstaltungen an koloniale Gewalt, Ausbeutung und Vertreibung von AfrikanerInnen durch den transatlantischen Sklavenhandel erinnern, im Sinne einer Vorgeschichte zu aktuellen, als neokolonial gedeuteten hierarchischen Wirtschaftsverhältnissen und zu aktueller rassistischer Diskriminierung in Deutschland. Was durch das Wirken von Kolonialismus und Rassismus als getrennte Entitäten konstruiert wurde und wird – metropolitan-deutsche, kolonial-deutsche und schliesslich auch aktuelle deutsche Kontexte – wird hier zusammengebracht.

Postkoloniale Kritik in Deutschland

Die Stärke postkolonialer Kritik liegt darin, dass sie der dominanten bundesdeutschen Erinnerungspolitik nicht nur eine Gegenerzählung entgegenhalten kann. Sie kann zugleich das Lavieren dieser Erinnerungspolitik zwischen der Verbannung des deutschen Kolonialismus als abgeschlossener und zeitlich wie räumlich entlegener Geschichte einerseits und dessen »Aufarbeitung« als identitätsstiftender Erzählung andererseits entlarven. Postkoloniale Kritik kann aufzeigen, wie beide Narrative für die heutige deutsche Gesellschaft funktionalisiert werden: als Strategie zur Darstellung der BRD als politisch neutral und unbelastet; als Möglichkeit, kriegerische Interventionen als Modernisierungsmissionen zu verkaufen; als Chance, die Kontrolle von Migration und die Vergabe von Staatsbürgerschafts- und anderen Rechten als neue Fragen zu verhandeln und dabei die Sicherheit zu haben, dass nur wenige durch die Erinnerung an drastische Vorläufer einen bitteren Nachgeschmack verspüren werden.

Bisher konzentrieren sich die aktuellen postkolonialen Interventionen zumeist darauf, der etablierten Kolonialismuserzählung eine andere, mal grausamere, mal vielschichtigere, mal widerständige Erzählung entgegenzuhalten. Das ist wichtig. Mindestens ebenso relevant ist es aber, die aktuelle Funktion der Erinnerung an bzw. Verschleierung von deutschem Kolonialismus anzugehen. Dass dies bisher nur teilweise geschah, mag damit zusammenhängen, dass die Aktionen der Bewegung sich weitgehend an Praktiken etablierter Geschichtspolitik orientieren: Die AktivistInnen intervenieren in Museen, setzen neue Denkmäler und benennen Strassen um. Zwar bricht das Narrativ, das sie dabei vorlegen mit etablierten Deutungen, ihre Praxis aber stützt zugleich die Funktion von Museen, Denkmälern sowie des bürgerlich-patriarchalen Einschreibens in den städtischen Raum.

Es sind Erinnerungspraktiken, die ausgerechnet in jener Ära ihre Konjunktur erfuhren, die die AktivistInnen kritisch beleuchten wollen und die Teil des Baus einer deutschen Nation und eines deutschen Kolonialreichs waren. Das »post« in »postkolonial« deutet auch auf die Verpflichtung zu einer Epistemologiekritik hin, dazu also, die Ideen und Praktiken, die dem Kolonialismus zugrunde liegen, zu brechen. Wenn die Bewegung diese Verpflichtung ernst nehmen will, dann muss sie auch aktiv darüber nachdenken, welche Konsequenzen sich aus der eigenen Verschränkung mit der dominanten Erinnerungskultur für die eigene Arbeit ergeben.

Dringend ist ausserdem das Nachdenken über eine Spaltung, die die Bewegung möglicherweise von ihrer Muttertheorie geerbt hat: Seit den 1990ern beklagen der postkolonialen Theorie nahe stehende KritikerInnen, dass die Auseinandersetzung mit Ökonomie von einem starken Fokus auf Repräsentationspolitiken verdrängt würde. Dieser Trend zeichnet sich auch im aktuellen postkolonialen Aktivismus in der BRD ab und bringt zwei Probleme mit sich.

Erstens war die Bewegung von Beginn an geteilt – in jene AktivistInnen, die sich mit Stadtführungen, Museumsrundgängen und Strassenumbenennungen auf einen »Kampf um Repräsentationen« konzentrieren und solche, die ausgehend von einer Anklage neokolonialer Verhältnisse einen Kampf um soziale Gleichstellung führen. Auch wenn zwischen beiden Lagern personelle Überschneidungen bestehen, unterscheiden sie sich deutlich in der Zusammensetzung der Akteure: Der Kampf um Repräsentationen wird vornehmlich von weissen und schwarzen Deutschen geführt, letztere waren insbesondere an den Berliner Initiativen zu Strassenumbenennungen beteiligt. Sie sind zum überwiegenden Teil westlich-akademisch gebildet; von diesen wiederum sind viele HistorikerInnen, die zum Teil Erfahrungen aus der NS-Gedenkstätten-Arbeit mitbringen; andere kommen aus der Anti-Rassismus-Arbeit.

Auf der anderen Seite steht die Kritik an postkolonialer Ausbeutung, etwa von der Anticolonial Africa Conference vorgebracht, die stark von AfrikanerInnen getragen wird, die teils mit sicherem, teils mit unsicherem Aufenthaltsstatus in Deutschland leben, sowie von entwicklungspolitischen NGOs und – auch hier –Antirassismus-AktivistInnen. Während es der Kampf um Repräsentationen mit den Strassenumbenennungen in die bürgerliche Presse schaffte, werden die Forderungen nach Gleichstellung in der bundesdeutschen Öffentlichkeit weitgehend ignoriert.
Der brandenburgische Offizier Otto Friedrich von der Groeben gründete im Auftrag des Kurfürsten Friedrich Wilhelm I. an der Küste Westafrikas in Ghana 1683 die Handelskolonie Gross Friedrichsburg. Von diesem Fort aus wurden die ghanaischen Sklaven verschifft.

Bild: Blick in einen "slave dungeon" im Fort Gross Friedrichsburg. Hier warteten die gefangenen Sklaven zum Teil wochenlang auf deren Abtransport, meistens nach Amerika oder in die Karibik. / Obruni (CC BY 3.0)

Dass die AktivistInnen mit EU-Pass das eine und solche ohne EU-Pass das andere fordern, dass die rechtlich und sozial zumindest halbwegs Abgesicherten von rechtlich und sozial Unabgesicherten getrennt agieren, ist für die Bewegung unglücklich. Will politischer Aktivismus wirklich postkolonial sein, muss er auch diese Spaltung überwinden, denn auch sie ist Ergebnis von Rassismus und einer in der Kolonialära verstetigten ungleichen globalen Ökonomie. Das Bündnis zur Kampagne 125 Jahre Berliner Afrika-Konferenz, das AktivistInnen aus beiden Lagern vereinte, war einer der wenigen Momente, in denen jenseits dieser Trennungen agiert wurde. Davon braucht es mehr.

Zweitens kann ein postkolonialer Aktivismus, der auf Repräsentationen und Geschichtspolitik fokussiert ist, vielleicht noch seine Anschlussfähigkeit zu antirassistischen Bewegungen behaupten. Er läuft aber Gefahr, aus der Perspektive anderer sozialer Bewegungen als gesellschaftlich irrelevantes HistorikerInnen-Hobby ignoriert zu werden. Dabei bieten sich durchaus Anschlussmöglichkeiten an. So lassen sich gerade im Rückgriff auf die deutsche Kolonialgeschichte Zusammenhänge zwischen Ausschliessungen herstellen, die üblicherweise als getrennte Phänomene betrachtet werden, aber als ein und dasselbe Disziplinierungsregime begriffen und von unterschiedlichen Akteuren gemeinsam angegangen werden können.

Die Kulturwissenschaftlerin Eske Wollrad hat zuletzt darauf hingewiesen, dass rassifizierende Diskurse sich keineswegs nur gegen Nicht-Weisse oder Nicht-Deutsche richten, sondern aktuell auch gegen ökonomisch marginalisierte weisse Deutsche eingesetzt werden. So etwa wenn öffentlich darüber nachgedacht wird, ob sich die »Reproduktion« von Armen begrenzen liesse.

Ein Blick in die Kolonialgeschichte zeigt, dass dies alles andere als ein neues Phänomen ist. Wer als »Weiss« und wer als »EingeboreneR« galt, wurde in vielen Kolonien nicht allein auf der Grundlage von »Hautfarbe« oder »Herkunft« entschieden, sondern hing auch von der »Lebenshaltung« der Betreffenden ab, davon, ob sie ein bürgerliches Leben führten oder nicht. So war in Deutsch-Südwestafrika der Status von aus Südafrika eingewanderten »BurInnen« ob ihres ländlichen und unbürgerlichen Lebensstils ähnlich umstritten wie der von Schwarzen, die mit bürgerlichen Weissen in einer Beziehung lebten. Dass Rassismus nichts mit »Rasse« oder besser »Rasse« nichts mit Genen zu tun hat, lässt sich im Rückgriff auf Kolonialismus deutlich illustrieren.

Seine Geschichte zeigt, dass Rassismus seine Zielobjekte nicht abhängig davon bestimmt, zu welcher »Rasse« sie gehören, sondern andersherum aus seinen Zielobjekten Menschen einer anderen »Rasse« macht. Rassismus trennt nicht nach »Rassen«, sondern rassifiziert. Zu zeigen, dass Rassismus auch den postkolonialen White Poor, etwa weissen Hartz-IV-EmpfängerInnen, schadet, weil die darin gelernten Diskursfiguren auch gegen sie gerichtet werden können, könnte ein erster Schritt sein, um eine Anknüpfung zwischen postkolonialem Aktivismus und sozialen Bewegungen in Deutschland zu wagen. Postkoloniale Kritik bietet mehr als Gegenerzählungen. Ihr Potenzial lässt sich weiter ausschöpfen.

Manuela Buche
Artikel aus: Phase 2 / Ausgabe Nr. 37
www.phase-zwei.org

Fussnoten:

[1] Andreas Eckert/Albert Wirz, Wir nicht, die Anderen auch. Deutschland und der Kolonialismus, in: Sebastian Conrad/Shalini Randeria (Hrsg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt a. M. 2002, 376.

[2] Editorial. Vorwärts in der Geschichte, in: iz3w 301 (2007), 3.

[3] Diese Ausführungen beruhen wesentlich auf der Arbeit der Gruppe Kolonialismus im Kasten?

[4] Robert Kappel/Tina Schneidenbach, China in Afrika. Herausforderungen für den Westen, in: GIGA Focus 12 (2006), 1.Robert Kappel/Tina Schneidenbach, China in Afrika. Herausforderungen für den Westen, in: GIGA Focus 12 (2006), 1.

[5] Ebd., 6.

[6] Birthe Kundrus, Moderne Imperialisten. Das Kaiserreich im Spiegel seiner Kolonien, Köln 2003, 286.